„Nur noch ein Video…“ – die eigene Aufmerksamkeit als Geldquelle für soziale Plattformen


von Felix Castello

Wir alle verbringen viel Zeit auf sozialen Plattformen. Global betrachtet beläuft sich laut Zahlen aus dem Jahr 2018 die Nutzung sozialer Netzwerke auf durchschnittlich 138 Minuten täglich. In Deutschland wird davon am häufigsten YouTube genutzt mit durchschnittlich 150 Minuten pro Tag. Und in den letzten Jahren stieg durch den Stillstand in der COVID-19-Pandemie und dem Fehlen physischer Interaktionen die durchschnittliche Bildschirmzeit noch einmal deutlich nach oben. Dass wir so viel Zeit auf sozialen Netzwerken verbringen, hat selbstverständlich zur Folge, dass sich die Unternehmen dahinter dies auch zunutze machen wollen. Dadurch hat sich eine ganze Industrie herausgebildet, die darauf abzielt, die Aufmerksamkeit der eigenen Nutzer*innen gezielt zu lenken. Das ist die sogenannte Aufmerksamkeitsökonomie: Je mehr Zeit wir auf sozialen Plattformen verbringen, desto größer wird deren Umsatz. Jeder Klick zählt und sorgt bei jemandem für finanziellen Profit. Die eigene Aufmerksamkeit ist damit eine sehr wertvolle Ressource. Daher haben alle Plattformen kleine und große Gestaltungstricks, um unsere Aufmerksamkeit zu kapern und uns zu Aktionen zu bewegen, die eigentlich dem eigenen Interesse widersprechen (siehe dazu auch unseren Blogeintrag zu Dark Patterns). YouTube zum Beispiel hat seinen Algorithmus, der den Nutzer*innen Videos vorschlägt, schon vor Jahren dahingehend umgestellt, nicht mehr die Videos mit den meisten Aufrufen zu präsentieren, sondern gezielt Videos vorzuschlagen, die die auf der Plattform verbrachte Zeit so lange wie möglich halten. Und umgekehrt setzen die Unternehmen hinter den Plattformen die Möglichkeiten, mit Ihnen Geld zu verdienen, genau so, dass immer mehr Menschen immer mehr Zeit auf ihren Plattformen investieren. Laut der Künstlerin Jenny Odell entsteht dadurch letztendlich ein Teufelskreis: Das menschliche Bedürfnis nach Kontakt und Anerkennung wird auf sozialen Netzwerken durch oberflächliche Aufmerksamkeit zunächst scheinbar befriedigt, unser Verlangen danach wird aber immer größer.

Wie also gewinnen wir die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit wieder zurück? Odells Ansatz dafür ist ebenso simpel wie radikal: Nichtstun. Nichtstun bedeutet, das eigene Umfeld so wahrzunehmen, wie es gerade ist, ohne dabei abgelenkt zu werden. Laut Odell gibt es dabei zwei mögliche Wege: Spaziergänge in der Natur oder die Auseinandersetzung mit Kunst. Es hilft also, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Zum Beispiel kann man versuchen, die gewohnte Umgebung mit den Augen einer Touristin oder eines Touristen wahrzunehmen oder auch, falls man keinen unmittelbaren Zugang zur Natur hat, auf spezielle Dinge, wie Überwachungskameras in der eigenen Umgebung achten. Auch das sogenannte Deep Listening kann unterstützend wirken. Dabei handelt es sich um eine Form intensiven Zuhörens, bei der das komplette Umfeld auditiv wahrgenommen werden soll. So soll ein Zugang zur eigenen Wahrnehmung ermöglicht werden. Und daraus ergibt sich eine erhöhte Aufnahmefähigkeit. Auch Sport, Museumsbesuche oder Meditation sind Möglichkeiten, die eigene Aufmerksamkeit bewusst zu steuern.

Ein kompletter Rückzug aus dem Digitalen ist allerdings auch keine Lösung: Man kann aktuellen politischen Ereignissen durch eine Abstinenz von digitalen Medien nicht entfliehen, im Gegenteil ist politische Teilhabe heute wichtiger denn je. Man kann aber das eigene Bewusstsein auf etwas ganz Bestimmtes richten, es geht also darum, diese Fähigkeit zu trainieren und sich nicht von digitalen Technologien in der Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit bestimmen zu lassen.

Quellen und Links zum Weiterlesen und -schauen:

Jenny Odell (2021): Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. München: C. H. Beck.

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/475072/umfrage/taegliche-nutzungdauer-von-sozialen-medien/ (Letzter Zugriff am 22.8.2022).

https://www.youtube.com/watch?v=Vu-uXVZtkjw (Letzter Zugriff am 22.8.2022).

https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/nichtstun-jenny-odell-meditation-analog-fomo-rezension (Letzter Zugriff am 22.8.2022).

https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/14/jenny-odell-social-media-aufmerksamkeit-oekonomie-achtsamkeit-digitalisierung (Letzter Zugriff am 22.8.2022).

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